In San Marino und anderswo

(Deutsche Universitätszeitung 15/16, 16. August 1996, S. 28-29)

von Reinhard Fößmeier


Die Akademio Internacia de la Sciencoj (AIS) San Marino bietet mit ihrem Lehrprogramm eine Alternative zum Betrieb der konventionellen Universitäten.
Anfang der achtziger Jahre entstand im Rahmen des Europa-Klub e. V. bei einigen Wissenschaftlern die Idee zu einer universitätsähnlichen Lehr- und Forschungseinrichtung, die mit einigen traditionellen Vorstellungen brechen sollte: Mit diesem Programm machten sich die Wissenschaftler, unter denen sich auch der spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Prof. Dr. Reinhard Selten, befand, auf die Suche nach einem geeigneten Träger. Es sollte nach Möglichkeit ein Land sein, das der neuen Einrichtung eine juristische Basis bieten, sich aber in die akademischen Belange nicht einmischen und das oben aufgeführte Programm respektieren würde. Ein solches Land wurde in der unabhängigen Republik San Marino gefunden, wo der congresso di stato 1983 die Gründung der Akademio Internacia de la Sciencoj (AIS) beschloß. Es dauerte dann bis 1985, bis ein Hochschulrahmengesetz erlassen war und der damalige Kultusminister, Frau Dr. Fausta Morganti, am 13.9.1985 die offizielle Gründung vollziehen konnte. San Marino gestand damit der AIS das Recht zu, Hochschulprüfungen abzunehmen, und erkannte die damit verliehenen Grade an.

Die derzeit 39 Vollmitglieder der AIS sind überwiegend Professoren an Hochschulen von über 20 Ländern oder Mitglieder anderer wissenschaftlicher Akademien und arbeiten ausschließlich ehrenamtlich für die AIS. Dem Lehrkörper gehören außerdem beigeordnete Professoren, Dozenten und Assistenten, insgesamt etwa 200 Mitarbeiter, an. Sie kümmern sich um das Lehrangebot und die Betreuung der Studenten. Alle Angehörigen der AIS sind im ISD (internacia sciencista dokumentaro) aufgeführt, das einmal in jeder Senatsperiode, also vierjährlich, in Buchform erscheint und im Internet ständig aktuell gehalten wird. Das ISD erleichtert z. B. Studenten die Suche nach einem Betreuer für die Magisterarbeit oder einem Doktorvater.

Die Texte von Kongreßvorträgen, aber auch ausgearbeitete Vorlesungsskripten erscheinen regelmäßig in der Reihe der Acta Sanmarinensia. Ein Teil dieser Texte ist ebenfalls über das Internet zugänglich. Auch Bücher von Akademiemitgliedern sowie ausgewählte Dissertationen werden von der AIS herausgegeben. Das neueste Werk in dieser Reihe ist die zweisprachige Ausgabe von "Enkonduko en la teorion de lingvaj ludoj / Einführung in die Theorie sprachlicher Spiele" von Reinhard Selten und Jonathan Pool.

Während sich ein Großteil der Arbeit der AIS schriftlich oder über elektronische Netze abspielt, werden regelmäßig akademische Konferenzen veranstaltet. Nach Möglichkeit findet jährlich eine solche Konferenz im Geburtsland der AIS in San Marino statt; weitere können in jedem Land stattfinden, wo die AIS über ein Partnerinstitut verfügt und wo ihre Lehr- und Prüfungstätigkeit öffentlich anerkannt ist. Bei diesen Konferenzen (SUS = Sanmarinesische Universitätssitzung) finden Intensivkurse in verschiedenen Fächern und Vorlesungsreihen statt, außerdem die Abschlußprüfungen, zu denen nach sanmarinesischem Recht eine international und interdisziplinär besetzte Prüfungskommission mit 6 oder 11 Mitgliedern (je nach dem angestrebten Grad) gebildet werden muß.

Fachlich besteht die AIS aus sechs Fakultäten, die nach Karl Poppers Modell der drei Welten eingeteilt sind: Die Fakultäten 1 und 2 befassen sich mit der "Welt 1" der Dinge innerhalb der menschlichen Vorstellung, 5 und 6 mit der äußeren physikalischen "Welt 2" und die Fakultäten 3 und 4 mit der "Welt 3" der außerhalb der individuellen Vorstellung nichtmateriell existierenden Dinge. Die ungeraden Fakultäten gehen dabei analytisch und nomothetisch vor, während den geradzahligen ein beschreibender, ideographischer Forschungsansatz zugrundeliegt. So reiht sich etwa die Informatik in die erste, die Soziologie in die zweite, die Mathematik in die dritte, die Philosophie in die vierte, die Physik in die fünfte und die Architektur in die sechste Fakultät ein. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird bei der AIS sehr gefördert und ist auch in den Regularien festgeschrieben, die für jedes Studium mindestens einen fachfremden Kurs und für die Abschlußprüfungen Beobachter aus anderen Fakultäten vorschreiben. Auch bei Fächerkombinationen im Studium gibt es nur wenige Einschränkungen.

Die jüngste SUS der AIS fand im Juli in Prag statt. Dabei konnte erstmals das Studienprogramm einer solchen Tagung teilweise in die Internationalen Kongreßuniversität der Universala Esperanto-Asocio (UEA) integriert werden, die ihren 81. Weltkongreß ebenfalls in Prag abhielt. Etwa 3000 Kongreßteilnehmer erhielten dadurch Zugang zum Kursprogramm, in dessen Rahmen auch Prof. Reinhard Selten einen achtstündigen Kurs zum Thema "Spieltheorie" anbot. Alle Lehrveranstaltungen während einer SUS finden grundsätzlich in ILo statt, damit sprachliche Probleme bei der Kurswahl der Studenten keine Rolle spielen. Auch bei den Abschlußprüfungen wird in ILo vorgetragen und geprüft. Studenten auf der Bakkalaureats- und Magisterstufe können übersetzerische Hilfe in Anspruch nehmen, was aber nur selten geschieht. Für wissenschaftliche Vorträge aus der Forschungsarbeit sind auch andere Sprachen zugelassen.

Die Kurse, die die AIS bei ihren Konferenzen, über ihre Mediothek oder durch ihre an anderen Universitäten lehrenden Mitglieder anbietet, reichen meist nicht aus, um Studenten ein geschlossenes Studienprogramm zur Verfügung zu stellen. Die AIS erkennt aber Studienleistungen an allen Universitäten an, denen von einer bestimmten Anzahl von AIS-Angehörigen Seriosität bescheinigt wird. Zum Erwerb eines Abschlußzeugnisses ist allerdings eine Mindestanzahl von AIS-Kursen nötig.

Finanziell wird die AIS von ihrem Fördersektor getragen. Die individuellen und kollektiven Fördermitglieder zahlen einen Jahresbeitrag von derzeit 125 DM und erhalten dafür ein Mitspracherecht bei der Verwaltung der AIS. Studenten müssen bei Prüfungen einen Beitrag zu den entstehenden Kosten bezahlen.

Naturgemäß erwerben nur wenige Studenten ihren ersten Grad originär bei der AIS; solche Studenten kommen in der Regel aus Ländern, wo ein gewünschtes Fach nicht angeboten wird. Häufiger wird an der AIS ein Aufbaustudium absolviert. Dabei spielt meist die Motivation eine Rolle, frei von sprachlicher Diskrimination zu studieren und eine entsprechende Haltung durch einen Studienabschluß bei der AIS zu dokumentieren. Andere Wissenschaftler lassen ihren bereits anderswo erworbenen akademischen Grad von der AIS durch eine erneute Abschlußprüfung nach AIS-Regeln anerkennen, um über ein international gut einzustufendes Zeugnis zu verfügen, oder um selbst bei der AIS mitzuarbeiten. Für letzteres ist zwar ein Abschluß der AIS nicht Voraussetzung, jedoch nützlich.


AIS San-Marino, septembro 1996