Die unbekannten Opfer des Englischmonopols

Ein Plädoyer für weniger (sprachlichen) Kongreß-Streß.
Von Bruce Arne Sherwood.
Aus: Deutsche Universitätszeitung, November 1980.
Auf glattem internationalem Parkett "versagt" so mancher Forscher ausgerechnet da, wo seine Botschaft gehört werden soll - im Kreis reputierlicher Kollegen.
Während meiner Untersuchungen darüber, wie man aus einem geschriebenen Text automatisch einen gesprochenen erzeugen könnte, machte ich die Erfahrung, daß es um vieles leichter ist, einen relativ guten Esperanto-Text herzustellen als einen auch nur mäßig brauchbaren englischen, auch wenn bei letzterem eine spezielle phonetische Schreibweise benutzt wird. Das brachte mich auf einen bisher vernachlässigten Gesichtspunkt bei dem Sprachenproblem in der Wissenschaft - nämlich der klaren Unterscheidung zwischen dem Verstehen eines englischen Textes und dem Sprechen der englischen Sprache seitens der Wissenschaftler.

Ein Großteil der Wissenschaftler in aller Welt sieht sich gezwungen, englische Texte verstehen zu lernen. Meistens schaffen sie es auch. Deshalb neigen Wissenschaftler zu der Annahme, die Verbreitung der englischen Sprache habe das Sprachenproblem in der Wissenschaft gelöst.

Die Mehrzahl versteht von allem ein wenig

Enorme Probleme gibt es aber nach wie vor mit gesprochenem Englisch. Ich möchte das durch einige Beispiele erläutern. Während einer Sommertagung über Quantenphysik in Erice/Sizilien hatte ich durch meine Kenntnisse des Italienischen oft Gelegenheit, mich mit jungen italienischen Wissenschaftlern zu unterhalten. Sie gaben mir gegenüber zu, daß sie nicht viel von den englischsprachigen Vorträgen verstehen konnten. Nach einem Vortrag auf englisch in der Universität Ulm hörte ich mit Bedauern, daß viele der Studenten Schwierigkeiten gehabt hatten, meinem Vortrag zu folgen, onwohl ich mich eigens bemüht hatte, deutlich zu sprechen und umgangssprachliche Ausdrücke zu vermeiden. Bei einem Wochenend-Seminar in Moskau mit Wissenschaftlern, Ingenieuren und Hochschullehrern mußten alle Vorträge der langsamen und umständlichen Prozedur der anschließenden Übersetzung unterworfen werden, und persöliche Unterhaltungen während der Teepausen waren nicht möglich, da die meisten Russen nur sehr wenig Englisch und die Amerikaner, mich eingeschlossen, ebensowenig Russisch konnten. (Wahrscheinlich konnten alle Russen hinreichend gut englische Texte lesen.)

Trotz aller Anstrengungen, einschließlich eines acht bis zehn Jahre langen Unterrichts, können die meisten japanischen Ingenieure und Wissenschaftler, die mein Institut besuchen, nur völlig unzureichend Englisch und verstehen nur sehr wenig von dem, was man ihnen sagt. Eine mir bekannte Kernphysikerin sprüht vor Geist im Spanischen, fällt aber im Englischen auf ein mühsames Gestammel zurück, obwohl sie sich sehr bemüht hat, sich das Sprechen anzueignen. (Sie versteht englische Texte ohne Mühe.) Vermutlich wirkt sie auf meine amerikanischen Kollegen weit weniger beeindruckend als auf mich.

Diese Probleme bleiben vielen Wissenschaftlern deshalb verborgen, weil diejenigen unter den ausländischen Kollegen, welche man auf internationalen Konferenzen ein ausgezeichnetes Englisch sprechen hört, eine wenig repräsentative Gruppe bilden. Erfolg in der internationalen Wissenschaft hat bislang eine diskriminierende, unwissenschaftliche Voraussetzung: die Redegewandtheit im Englischen.

Sprachprivileg für eine kleine Minderheit

Manchmal beklagen sich amerikanische Wissenschaftler, daß sie Schwierigkeiten haben, die Zeit zu finden, Texte in anderen Sprachen auch nur verstehen zu lernen. Aber wenigstens wird ihnen das nicht mehr aufgezwungen. Größtenteils fordern amerikanische Universitäten nicht mehr, daß die Studenten fremde Sprachen lernen. Ausländische Wissenschaftler zwingt man jedoch dazu, nicht nur englische Texte verstehen zu lernen: wenn sie zu den führenden Köpfen der internationalen Wissenschaft gehören wollen, müssen sie einen Weg finden, Englisch sprechen zu lernen.

Diese diskriminierende Zusatzbelastung ist ungerecht gegenüber allen ausländischen Wissenschaftlern, aber - wie immer bei solchen Belastungen - sie drücken am meisten den Schwachen, einschließlich des akademischen Nachwuchses und der Wissenschaftler aus der dritten Welt, mit Ausnahme vielleicht in den ehemaligen britischen Kolonien. Die Belastung besteht nicht nur in der für die wissenschaftliche Arbeit verlorenen Zeit. Vielleicht bereitet es keine besonderen Schwierigkeiten, englische Texte lesen zu lernen, aber für viele Ausländer ist es sehr schwer, Englisch sprechen und verstehen zu lernen.

Die komplizierten Laute und das Durcheinander bei der Rechtschreibung bewirken, daß die Fähigkeit, Geschriebenes zu verstehen, wenig dazu beiträgt, zu sprechen und Gesprochenes zu erfassen. In der Vergangenheit sind viele talentierte amerikanische Studenten in einer deutschen Sprachprüfung gescheitert; ebenso muß es viele kompetente ausländische Wissenschaftler geben, die es nicht schaffen, Englisch zu sprechen und zu verstehen, wie sehr sie sich auch bemühen. Diese unsichtbaren Opfer werden niemals voll an der internationalen Wissenschaft teilhaben können.

Eben weil man sie nicht kennt, ist es schwierig, eine Vorstellung darüber zu erhalten, wieviele Wissenschaftler "unsichtbare Opfer" sind, weil sie kein Englisch sprechen. Eine hervorragende Methode, um wenigstens einen Teil der Information zu erhalten, fand Paul Neergard von der Universität Kopenhagen. Er fertigte eine Studie an, wie durch Versuchsstationen und Universitätskurse die in seinem dänischen Labor entwickelte Wissenschaft und Technik der Samen-Krankheiten verbreitet wurde. Er fand heraus, daß die Verbreitung stark von sprachlichen Gegebenheiten abhing.

Zum Beispiel verbreitete sich die Technik mehr in den englischsprachigen als in den französischsprachigen Ländern Afrikas. Ebenso wies er durch Statistiken nach, daß Studenten aus solchen Länern, in denen Englisch als Fremdsprache vorherrscht, weit zahlreicher an den Kursen teilnahmen und im Labor größeren Erfolg hatten als Länder mit vorzugsweise anderen Fremdsprachen. Man braucht sicher noch mehr solcher Studien, um den Umfang des Problems der Diskriminierung gründlich zu kennen.

Ein weiteres Problem besteht darin, daß es für einen Ausländer ziemlich schwierig ist, in gutem Englisch für Fachzeitschriften zu schreiben. Ich könnte kaum einen Fachtext in Spanisch oder Italienisch in hinreichend gutem Stil verfassen, obwohl ich in diesen Sprachen schon hinlänglich gut vorgetragen habe. Oft müssen die Autoren die Hilfe eines Bekannten erbitten oder sogar einen Übersetzer bezahlen, um einen englischsprachigen Artikel abzufassen. Es ist offensichtlich, daß dadurch gerade junge Wissenschaftler besonders belastet werden. Es ist neuerdings üblich, druckfertige Manuskripte für die Kongreß-Ausgaben zu verlangen. Das bedeutet, daß mehr und mehr redaktionell nicht überarbeitete Beiträge sprachlich mangelhaft sind, da die Autoren nicht in der Lage waren, in Englisch zu schreiben.

Eine sprachliche Brücke, die man allerdings nutzen muß

Zusammenfassend kann man sagen, daß viele ausländische Wissenschaftler schriftliches Englisch verstehen gelernt haben, daß aber Englisch nicht das bestmögliche Verständigungsmittel ist, wenn man Gesprochenes verstehen oder in der internationalen Wissenschaft veröffentlichen will. Man braucht eine nicht-diskriminierende Hilfssprache, welche für arbeitsüberlastete Wissenschaftler sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Form beherrschbar sind. Diese "Brückensprache" würde es allen Beteiligten erlauben, gleichberechtigt an der internationalen wissenschaftlichen Diskussion teilzuhaben, ohne einen erheblichen Aufwand an sprachlicher Vorbereitung dafür aufwenden zu müssen.

Zum Glück gibt es eine solche Sprache: Esperanto. Ein junger japanischer Wissenschaftler, der ein hervorragendes Esperanto und ein ziemlch gutes Englisch sprach, sagte mir, daß es nach seiner Schätzung für Japaner fünf- oder sechsmal leichter sei, Esperanto zu beherrschen als Englisch. Nachdem ich Esperanto, Italienisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Persisch gelernt habe, glaube ich, daß ein Amerikaner drei- bis fünfmal leichter Esperanto beherrschen lernt als andere Sprachen.

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: ich habe zwei Semester lang offiziell Italienisch gelernt und studierte danach ein Jahr in Italien; dagegen lernte ich Esperanto während weniger Monate im Selbststudium mit einem einfachen Lehrbuch. Dennoch kann ich Esperanto mit mehr Aussagekraft, Selbstbewußtsein und Präzision lesen, schreiben und verstehen als etwa Italienisch. Bei meinen wissenschaftlichen Vorträgen in Esperanto hatte ich immer eine Zuhörerschaft, die meinen Ausführungen besser folgen konnte und aktiver teilnahm, als ich das bei meinen englisch-, spanisch- und italienischsprachigen Vorträgen im Ausland erlebte.

Die Laute des Esperanto sind viel einfacher als die des Englischen, sie haben Ähnlichkeit mitden spanischen. Die fünf Vokale des Esperanto beispielsweise unterscheiden sich klar voneinander, während viele englische Vokalvariationen von Ausländern kaum auseinandergehalten werden. Kleine Irrtümer bei Aussprache oder Hören eines Vokals im Esperanto machen diesen Vokal nicht unverständlich - im Englischen können leichte Abänderungen eines Vokals dagegen den Sinn des ganzen Wortes verändern. Spanisch-Sprechende haben große Schwierigkeiten, wenn sie versuchen, beim Sprechen oder Hören die englischen Wörter "meet" und "mitt" zu unterscheiden.

Jede Silbe wird im Esperanto vollständig und klar ausgesprochen, ohne unbetonte Silben wie im Englischen zu verschlucken oder zu reduzieren. Die Rechtschreibung ist völlig regelmäßig. Die Grammatik ist einfach und ausnahmefrei; Verben kennen keine Konjugation, der Plural ist regelmäßig, und die Substantive haben kein Geschlecht. Vielseitig verwendbare Vor- und Nachsilben tragen zu der hohen Aussagefähigkeit und Ausdruckskraft der Sprache bei. Der Wortschatz beruht zum größten Teil auf lateinischen und germanischen Wurzeln, die in vielen Sprachen weit verbreitet sind.

Die europäische Herkunft der Wörter macht zwar Esperanto für Japaner relativ schwieriger als für Amerikaner, aber absolut gesehen finden die Japaner Esperanto ziemlich leicht, jedenfalls viel leichter als Englisch. Außerdem bewirken europäische Lehnwörter in der japanischen Sprache vor allem in wissenschaftlichen und technischen Bereichen, daß der Wortvorrat des Esperanto nicht völlig fremd ist. Ähnliches gilt für andere nichteuropäische Völker und Sprachen.

Auch wenn man zugibt, daß es ein Sprachenproblem gibt und Esperanto es lösen kann, könnte man einwenden, daß eine solche Lösung utopisch und unrealistisch ist. Dennoch bedarf es nur relativ bescheidener Schritte, um Fortschritte zu erzielen. Man muß zunächst betonen, daß Esperanto nicht als eine "universelle" Sprache entworfen wurde, die bestehende Sprachen ablösen soll. Im Gegenteil: die Rolle des Esperanto liegt in der einer "Brückensprache", eben im Gebrauch zwischen Personen verschiedener Muttersprachen.

Esperanto - ersehntes Ende endloser Mißverständnisse

So kann sie schon von Nutzen sein, auch wenn sie nur auf einem einzelnen Gebiet, nämlich internationalen wissenschaftlichen Beziehungen, eingesetzt wird. Ein erster praktischer Schritt wäre eine Ermunterung seitens nationaler und internationaler Verbände, eine Mindestanforderung in Fremdsprachen zu einer der Voraussetzungen eines Examens zu machen: nälich die erfogreiche Teilnahme an einem Kursus, Texte in Esperanto zu verstehen und zu verfassen. Diese Anforderung wäre eine ziemlich leichte Aufgabe für einen Studenten mit Abitur. Die besonderen Eigenschaften des Esperanto garantieren, daß die Fähigkeit, Texte in dieser Sprache zu verstehen und zu verfassen, den Studenten auch fast schon dahin bringt, zu sprechen und Gesprochenes zu verstehen.

Die erste Generation von Studenten könnte sich selbst mit vorhandenen Lehrbüchern die notwendigen Kenntnisse verschaffen; danach hätte man schon einen gewissen Anteil von Wissenschaftlern mit praktischer Erfahrung. Und das würde uns, die schon älteren Wissenschaftler, nicht allzu sehr in Bedrängnis bringen, denn im Gegensatz zu anderen Sprachen könnten auch wir uns in relativ kurzer Zeit ein hinreichendes Repertoire in Esperanto aneignen.

Es gibt ein potentiell starkes Echo in der Welt der Wissenschaft für eine solche Initiative. Es besteht auch ein wachsendes Interesse an Esperanto in wissenschaftlichen und anderen Kreisen in Europa, einfach wegen der immer größer werdenden Belastung durch eine wachsende Zahl von Arbeitssprachen in der Europäischen Gemeinschaft. Die dritte Welt würde feststellen, daß viele ihrer Bildungsprobleme durch die Einführung des Esperanto in internationale Beziehungen wesentlich verringert würden.

Die wohl größten Hindernisse sind der Mangel an Wissen um die Problematik und ihre mögliche Lösung, der lähmende Standpunkt, daß man sowieso nichts erreichen wird, und der naheliegende Wunsch einer englischsprachigen Elite, ihre privilegierte Position zu behaupten.

Reformen dieser Art dauern immer lang

Die Geschichte der Einführung des metrischen Systems hilft gerade Wissenschaftlern zu verstehen, warum Esperanto bis jetzt so wenig bewirkt hat. Das metrische System wurde 1670 vorgeschlagen, 1799 eingeführt und kam in Frankreich bis 1840 doch nicht in allgemeinen Gebrauch. Trotz des Einflusses Frankreichs, trotz auf der Hand liegender Vorteile wurde das metrische System erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts in Europa zur Norm. Und es kann noch bis 1990 dauern, bis das metrische System auch in den USA durchgesetzt ist.

Esperanto wurde 1887 von Ludwig Zamenhof aus Polen eingeführt. Die Zensur des Zaren und zwei Weltkriege setzten Esperanto fast ein Ende. Ein neuerliches Interesse rührt in letzter Zeit daher, daß mehr und mehr nationale Sprachen in internationalen Organisationen für sich den Rang einer Arbeitssprache fordern - zum Beispiel Arabisch. Diese Situation wachsender Gleichberechtigung führt zum Sprachenchaos, das allein durch eine politisch neutrale Sprache behoben werden kann.

In den USA hat man viele Jahre lang unaufhörlich und ohne Ergebnis über den Wert eines vorgeschriebenen Sprachenunterrichts für Studenten debattiert. Diese fruchtlose Diskussion ist ein Symptom dafür, daß das amerikanische Bildungssystem erfolglos versucht, eine rationale Bildungspolitik zu definieren. Eine neue Politik ist erforderlich, um aus der offensichtlichen Sackgasse herauszukommen. Der früher vorgeschriebene Sprachunterricht erforderte einen gewaltigen Aufwand bei minimalen Ergebnissen und erschien den meisten Studenten ebenso willkürlich wie planlos. Das gab viel böses Blut und Zynismus und führte zur Abschaffung des vorgeschriebenen Sprachunterrichts in den USA.

Wir müßten zwar die Forderung nach einem obligatorischen Fremdsprachenunterricht erneut erheben, aber zugleich wäre die zu bewältigende Arbeit eine total andere: sie würde nicht mehr so erdrückend wirken, die Ergebnisse wären sofort greifbar, und der Zynismus würde dem Idealismus und einer internationalen Gesinnung weichen.


Professor Sherwood aus Urbana/USA war Teilnehmer am 9. Internationalen Kongreß [der Association Internationale de Cybernétique] in Namur. Im sprachgeteilten Belgien war Esperanto als dritte Arbeitssprache zugelassen. Die Übersetzung aus dem Esperanto-Original für die Deutsche Universitäts-Zeitung stammt von Dr. Fischer von der Universität Münster.