Vorbemerkungen der Herausgeber

Europas Einigungsstreben entwickelte sich aus zwei emotionalen und einer rationalen Wurzel. Alle drei waren als Folgen des Zweiten Weltkriegs entstanden: die Angstgemeinschaft vor der stalinistischen Sowjetunion im Osten, die Zufluchtsgemeinschaft zu den freiheitlich-demokratischen Vereinigten Staaten im transatlantischen Westen und die dazwischen hineinkonstruierte Wirtschaftsgemeinschaft der Kohleförderung, Stahlproduktion, Atomenergiegewinnung und Gütervermarktung zur nachhaltigen Verhinderung eines deutschen Alleingangs.

Die erste Wurzel begann ihre Wirkung schon zu verlieren, bevor Michael Gorbatschow auch dem Osten den Weg in die Freiheit bahnte. Eine „uneingeschränkte Verbundenheit“ mit den USA war unausgesprochen schon angebahnt, bevor sie der deutsche Bundeskanzler als Reaktion auf die Zerstörung der Wahrzeichen westlicher Wirtschaftsmacht aussprach und damit unausgesprochene Ängste vor einer aus dem Süden drohenden neuen Gefährdung wortlos ansprach. Einstweilen waren unwirtschaftliche innereuropäische Grenzen schon weitgehend abgebaut und eine politische Europäische Union schon weitgehend aufgebaut worden, die dicht hinter der deutschen Westgrenze eine Gewaltenverteilung auf Straßburg, Brüssel und Luxemburg praktiziert. Eine örtlich und zeitlich ferner liegende Osterweiterung durch die noch immer geplante Aufnahme der durch Atatürks europäische Wende dafür reif gemachten Türkei war schon vorgesehen, bevor mit der deutschen Wiedervereinigung unverzüglich der erste Schritt zur Aufnahme reformeuropäischer Länder gewagt wurde, die durch Gorbatschows unerwartete Wende zu Glasnost und Perestroika plötzlich frei dafür wurden.

Europas Einigung kann aber abschließend nicht durch bloße Papiere gelingen, die in Straßburg mehrheitlich beschlossen, in Brüssel europaweit durchgesetzt und in Luxemburg zum Maßstab höchstrichterlicher Entscheidungen gemacht werden. Erstrebenswertes Endziel ist nicht ein Einheitskonstrukt aus Eurokraten in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion, sondern ein Einheitsgefühl der Europabürger, ein gemeinsames, europäisches Wir-Gefühl, eine europäische Identität. Innereuropäische Gemeinsamkeiten müssen gegenüber innereuropäischen Unterschieden aufgewertet werden, damit bewusst wird, wer wir sind, und wer die anderen. Wir müssen die europäische Wende in unserem Wissen, Worten und Wirken zu vollziehen lernen. Europa muss dazu in die Lehrinhalte und Lehrziele aller europäischen Bildungsstätten einziehen. "European Studies" wurden neuerdings dazu gefordert und zu institutionalisieren begonnen – als ein Schul- und Studienfach neben anderen?

Nein. Die Lehrpläne der Schulen und die Studienpläne der Universitäten nennen wenigstens grobe Ziele für das Studium von Wissenschaften, sie begnügen sich nicht etwa damit, irgendwelche mathematische Studien oder chemische Studien oder kunstgeschichtliche Studien einzuführen. Wissenschaften erforschen einen bestimmten Gegenstand mit ihm angemessenen Methoden zu einem Zweck, der sich im Lehrziel wiederfindet. Demgegenüber wird mit "European Studies" nicht bezweckt, die "europäische Wissenschaft" ähnlich wie die mathematische, chemische oder kunstgeschichtliche Wissenschaft an die nächste Generation weiterzugeben (womit deren Weg zur Front der Forschung abgekürzt, fortwährender wissenschaftlicher Fortschritt also trotz der endlichen Lebenserwartung jedes einzelnen Forschers möglich wird). Während der je gefragte Gegenstand und die angemessene Methode seiner Erforschung in den Philosophien der Mathematik, der Naturwissenschaft bzw. der Kunst wissenschaftstheoretisch und erkenntnistheoretisch thematisiert werden, bleiben die Grenzen des Begriffs "Europa" unhinterfragt – und folgerichtig auch das diese Begrenzung leitende Erkenntnisinteresse. Unbestreitbar ist nur, was das Europa der "European Studies" nicht ist. Es handelt sich nicht um das Konventionseuropa "vom Atlantik bis zum Ural", das nie eine geophysikalische Realität bezeichnete und längst durch die politische Realität Russlands gesprengt ist. Es handelt sich andererseits auch nicht um das Gesamtgebiet aller Unterzeichnerstaaten der Schlussakte ihrer in Helsinki abgehaltenen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, also nicht um das mehrheitlich von Christen bewohnte Territorium, das im Osten und Westen durch den Pazifik begrenzt ist, im Süden durch die Arabische Welt und den buddhistisch geprägten Fernen Osten.

Unklar, wenngleich erahnbar, ist das Auswahlprinzip der Unterrichtsgegenstände, denen die "European Studies" gelten sollen. Gelernt werden soll alles, was mit der EU zusammenhängt. Aber warum und wozu? Weil es sich um verhaltensrelevantes, also für den Lerner nützliches Wissen handelt? Weil die Europapolitiker der ersten Stunde und ihre heutigen Nachfahren ihre Denkmäler in Schulbüchern verdienen? Oder weil dieses Lernen zur Stabilisierung des Einigungswerks notwendig ist? Wir geben diese dritte Antwort.

Zur Stabilisierung eines Staates, einer Föderation oder einer Konföderation von Staaten sind drei Bedingungen unverzichtbar: einheitsstiftende Institutionen müssen koordiniert zusammenwirken, die vereinten Glieder müssen durch wirksame Kommunikation zusammengehalten werden, und die Individuen müssen sich mit der zu stabilisierenden Einheit identifizieren, wozu ein Wissen vom Wesen und Werden der Institutionen notwendig ist, aber allein nicht hinreicht.

Die "European Studies" haben nur einen Teil des Notwendigen im Auge, sind einäugig – ebenso wie die bisherige Europapolitik, deren Detailresultate den ausschließlichen Lehrstoff bilden. Einäugiges Sehen ist nicht einsichtig, sondern lückenhaft. Die Lücke klafft am blinden Fleck. Er befindet sich nicht nur beim menschlichen Auge genau dort, wo das unbewusst Wahrgenommene kommuniziert wird, damit es bewusst werden kann. Die bisherige Europapolitik bemühte sich mit guten Anfangserfolgen um das koordinierte Zusammenwirken einheitsstiftender Institutionen. Hierauf richtete und richtet sich das Auge offizieller und halboffizieller, Europa-orientierter Vereinigungen und sonstiger Einrichtungen (nicht zuletzt der Europa-Union), und die "European Studies" beschränken sich darauf, das so Registrierte der breiten Öffentlichkeit zu Bewusstsein zu bringen.

Zweiäugiges Sehen sieht tiefer. Es entdeckt Hintergründiges, das beim einäugigen Sehen von Vordergründigem verdeckt bleibt oder an der Stelle des blinden Flecks in trivialer Weise gleichgeschaltet wurde. Dieses gilt für die wirksame innereuropäische Kommunikation, jenes für die zu entwickelnde, mehrschichtige Identität des Europabürgers.

Es ist das unbestreitbare Verdienst des EuropaKlub, einer nicht von oben verordneten sondern als versuchte Bürgerinitiative entstandenen Gesellschaft für sprachgrenzübergreifende Europäische Verständigung, "Das Kommunikationsproblem als Nerv des europäischen Einigungswerks begreifen!" gefordert[1] zu haben. Der EuropaKlub bleibt nicht dabei stehen, die Vielfalt von Sprachen als kostbares Kulturgut Europas zu bejahen, oder, umgekehrt, als kostspielige babylonische Sprachverwirrung zu beklagen. Der EuropaKlub bemängelt vielmehr, dass bei all dieser Vielfalt Europa eigentlich sprachlos blieb, dass die innereuropäische Kommunikation nicht durch eine eigene Sprache, durch ein in europäischer Kultur wurzelndes, eigenständiges "Europäisch" erfolgt, sondern durch kostspieliges Übersetzen – oder durch den Notbehelf, als gemeinsame Verständigungssprache der europäischen Nationen die Sprache der USA zu verwenden. Da diese aber mit der Staatssprache Großbritanniens fast identisch ist, verschafft sie an sich schon einem Land der EU den Vorteil der bleibenden Brückenfunktion zu Nordamerika. Die Offizialisierung dieser Sprache würde Großbritannien außerdem ein (nicht nur) kulturelles Privileg verschaffen. Dagegen wandte und wendet sich der EuropaKlub mit der Forderung nach demokratischer Zweisprachigkeit für ein eigenständiges Europa. Die mehr und mehr praktizierte anglophone Ersatzlösung des europäischen Kommunikationsproblems behindert die Entwicklung einer gegenüber den USA eigenständigen europäischen Identität und zersetzt die nationalen Identitäten der Einzelinstrumente des europäischen Orchesters durch die modische Überschwemmung ihrer Sprachen mit nicht assimilierten Amerikanismen.

Eine auf Europa bezogene Bildung, wie der EuropaKlub sie seit seiner Gründung anstrebt, schließt das Wissen vom Entstehen und Wirken der einheitsstiftenden europäischen Institutionen ebenso ein, wie das Wissen um die Unterschiedlichkeit der Staaten Europas, die diese Institutionen zu vereinen begannen. Darüber hinaus geht es ihr aber mehr noch um das eigenständige worten können in einer gemeinsamen Zweitsprache, die nicht für alle europäischen Nationen Zweitsprache sein könnte, wäre sie nicht verschieden von allen europäischen Nationalsprachen. Benötigt wird also eine neutrale Sprache.

Man kann sich nicht mit etwas identifizieren, das man nicht liebt, und man kann nicht lieben, was man nicht kennt. Zur Entwicklung der europäischen Identität in den Köpfen der Europabürger ist eine dreistufige Europabildung nötig, die auf die bloßen "European Studies" zwei höhere Stockwerke aufsetzt. Das Wissen um das Wirkungsgefüge der Europäischen Union ist nur das Erdgeschoß der Europabildung. Auf ihm baut ein Wissen um die zu verwirklichende Möglichkeit eines weder eintönigen noch ungestimmten sondern konzertierten europäischen Wortungsgefüges auf. Im abschließenden Dachgeschoß muss die Reflexion des europäischen Wirkungs- und Wortungsgefüges verbunden werden mit dem Gedankengefüge Europa, so dass jener Europa-Begriff rational entwickelbar wird, der uns klar bewusst werden kann und soll, wenn wir – emotional – die europäische Identität im gemeinsamen europäischen Wir-Gefühl erleben. Er muss rationale Stimmigkeit mit emotionaler Lebendigkeit verbinden, sonst steht er für ein verkrüppeltes oder für ein totes Europa. Mit einem fruchtbaren Europa-Begriff enthüllt sich dann auch der Gegenstand für eine Wissenschaft, die methodisch in Forschung, Re-Vision und Lehre zum Zweck der Identitätsstiftung betrieben, und die daher wirklich studiert werden kann. Wir nannten[2] diese Wissenschaft Eurologie; andere sprachen von Europistik; sie könnte kurz auch Europik heißen. Die Einführung dieses Fachs in die Bildungsstätten der jetzigen und künftigen Europäischen Union zu fördern hat sich der EuropaKlub an der Schwelle des neuen Jahrtausends zum Ziel gesetzt.

Dass diese Wissenschaft noch kaum viel mehr als programmatisch existiert, ist kein Argument gegen ihre Wichtigkeit. Europa braucht das Studium Europas – und Europa ist mehr als das bloße Wirkungsgefüge der Europäischen Union. Vordergründig gilt es, die Europäische Union zu wahren, zu erweitern und weiterzuentwickeln. Dazu bedarf es einer Konzeption, genauer: eines Kriteriums dafür, was verdient, beibehalten, hinzugenommen oder geändert zu werden. Das schließt das Bewusstmachen der erwünschten Abgrenzung gegenüber anderen Erdregionen ein, denen gegenüber im übrigen weder Überheblichkeit noch Unterwürfigkeit angemessen ist (auch nicht die Internalisierung einer US-amerikanischen Leitkultur durch Nachfolge auf dem American way of life). Von Anfang an zu fragen ist also nach einem idealen Begriff des zu entwickelnden Europa. Er ist das Leitmotiv dieses Buches.

Die dazu vorgenommene und hier vorgelegte Sammlung und Ergänzung von Texten führt noch zu keinem wissenschaftsgeschichtlich und systematisch-enzyklopädisch beleuchtbaren Ganzen. Ein solches Ergebnis einer Re-Vision der Eurologie ist erst zu erwarten, wenn Visionen hinreichend lange und gründlich (auch kontrovers!) diskutiert und zu verwirklichen versucht wurden. Versucht wurde aber, Denkanstöße zu geben, von denen einzelne (noch) als anstößig empfunden werden mögen. Versucht wurde auch, durch Auswahl und Anordnung passender Veröffentlichungen und durch Erstellung ergänzender Texte schon die geschichtliche und systematische Dimension eines künftigen Forschungs- und Lehrgebiets Eurologie zu betreten. Das bisherige Wirken der Gesellschaft für sprachgrenzübergreifende europäische Verständigung (EuropaKlub) e.V. stellt dazu eine wertvolle Vorarbeit dar.

Unsere Textsammlung begnügt sich – um im Bild des eurologischen Lehr-Gebäudes zu bleiben – mit der Zusammenstellung weniger Fakten über das weitgehend bekannte Erdgeschoß und wendet sich schwerpunktmäßig der Innenarchitektur des weitgehend tabuierten, ersten Obergeschoßes zu, also dem innereuoropäischen Kommunikationsproblem, wobei der Blick stets auf das gerichtet wird, was im Dachgeschoß der Philosophie wesentlich wird, um den Europabegriff zu präzisieren, welcher dem Erlebnis europäischer Identität zugrunde liegen soll. –

Wir danken allen Autoren, die uns den Nachdruck ihrer anderweitig schon erschienenen Texte oder den Abdruck ihrer bisher unveröffentlichten Vortragsmanuskripte gestatteten, oder gar unserer Bitte folgten, zu einer gestellten Frage einen Originalbeitrag zu unserem Buch zu leisten. Dabei treten über manche Einzelheiten unterschiedliche Auffassungen zu Tage (übrigens auch zwischen den Herausgebern). Ob die Internacia Lingvo de Doktoro Esperanto kurz ILo genannt werden darf, ist ein an der Oberfläche liegendes Beispiel solcher Meinungsverschiedenheiten; ob ein gelegentliches Ausweichen auf anglizistische Wortbildungen oder Textwortungen pragmatisch geduldet werden kann oder mit einem obsta principibus! fundamentalistisch gerügt werden muss, ist eine schon tiefer liegende Streitfrage. Wir sehen in solchen Divergenzen nicht bedauerliche Unstimmigkeiten sondern belebende Denkanstößigkeiten.

Zum Schluss – aber nicht minder herzlich – möchten wir Frau Bärbel Ehmke für die typographische Gestaltung, Frau PDoc. Dr. habil. Věra Barandovská-Frank für die geleistete Redaktionsarbeit und Herrn Dr. Schlump für die Übernahme auch dieses Sammelbands in die Reihe "Bildungs-/Kommunikations-kybernetik" im Programm des KoPaed-Verlags danken.

Siegfried Piotrowski               Helmar Frank

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[1] mit dem "Kurzmemorandum" welches das siebenköpfige Präsidium dieser Gesellschaft anlässlich seiner Wiederwahl 1978-11-25 aufstellte und zweisprachig in Heft 20 (1978), S. 24 – 26 der Eŭropa Dokumentaro / documentatio europaea (der gemeinsamen Zeitschrift des Brüsseler Zentrums für europäische Bildung und des 1974 in Paderborn gegründeten EuropaKlub) veröffentlichte und im Eŭropa Kalendaro / Fasti Europenses 1980, Blatt 46 nachdrucken ließ.

[2]